Sieben Argumente

Julian Hanich, Der Tagesspiegel, 5. August 2003

Untertitelte Filme sind genauer, wahrer, stimmiger — und sogar pädagogisch wertvoll. Eine Polemik gegen die Unsitte des Synchronisierens — in sieben Argumenten Hi-hi-Hilfe!

Kino ohne Synchronisation, ohne deutsche Sprecher, die mehr oder weniger lippenbewegungskonform formulieren, was ein amerikanischer, französischer, japanischer Schauspieler laut Drehbuch in seiner Sprache zum Besten gibt? Für viele Leute ist das undenkbar. Nicht nur, weil nicht jeder des Italienischen oder Polynesischen mächtig ist oder zu faul zum Untertitel-Lesen — es gibt auch richtige Synchron- und Synchronsprecherfans. Die deutsche Stimme von Woody Allen zum Beispiel: Ist sie nicht echter als die Woody Allens selbst? Scherz beiseite. Schließlich bekommt man neben durchaus gelungenen Synchronisationen auch unablässig welche vorgesetzt, bei denen einem Hören und Sehen vergeht. Folgen wir daher heute einmal Jorge Luis Borges, der das Mundwerk des Drübersprechens schon vor über 50 Jahren als „üblen Kunstgriff“ schalt — mit sieben Argumenten gegen das Synchronisieren.

Die Sprache: Es mag ja etwas Beruhigendes haben, wenn die ganze Welt Deutsch spricht. Nur entspricht dies nicht der Realität. Bei der Synchronisation handelt es sich nicht nur um einen fragwürdigen Akt von Homogenisierung fremder Kulturen, sondern oft genug verschwindet ein Teil der filmischen Bedeutung in den dunklen Räumen der Synchronstudios. Gerade dort, wo Sprache soziale Unterschiede markiert (bei Kelly Macdonalds schottischer Bediensteter in „Gosford Park“) oder auf Fremdheit verweist (wie bei Gérard Depardieus französischem Immigranten in „Green Card“), führt die Synchronisation ins Nichts. Aus dem Arbeiter-Englisch der Liverpooler lower class wird — Hochdeutsch. Aus dem Dialekt eines sizilianischen Bergbauers wird — Hochdeutsch. Und aus dem black twang der Schwarzengettos wird, richtig, ebenfalls Hochdeutsch. Dabei hat es schon seinen Sinn und Reiz, dass etwa Ben Kingsley in „Sexy Beast“ nicht im Royal-Shakespeare-English parliert. Nur durch passende Wortübersetzung gegenzusteuern, genügt da nicht. Aber was sollen die Synchronisateure auch machen? Den brasilianischen Favelas-Slang in „City of God“ mit Kreuzberger Türken-Deutsch unterlegen?

Die Schauspieler: Die Synchronisation ist eine Art medizinischer Kunstfehler: Dem Schauspieler werden gewissermaßen fremde Stimmbänder transplantiert. Das deutsche Publikum lernt immer einen Zwitter kennen: ein Mischwesen aus Robert de Niro und Christian Brückner, aus Michael Douglas und Volker Brandt. Stirbt der Synchronsprecher-Teil dieser Doppelkreatur ab, muss der Schauspieler wieder unters Messer. Künftig wird das beim alten Cowboy Clint Eastwood so sein, dessen Sprecher Klaus Kindler in die ewigen Jagdgründe eingegangen ist. Bei singenden Hauptdarstellern bleibt zudem meist der Originalgesang unangetastet — so gesehen und gehört, agiert Michelle Pfeiffer in „Die fabelhaften Baker Boys“ doppelzüngig. Andererseits: Warum redet eigentlich bei Gene Hackman immer John Goodman mit rein? Die Antwort: Die Anzahl guter Synchronsprecher ist begrenzt. Er muss nicht nur die Dialoge lippengetreu nachsprechen; er muss den Darsteller stimmlich nachspielen. Tom Hanks ist Jeff Goldblum ist Kevin Kline ist Bill Murray — ist mit anderen Worten Arne Elsholtz.

Die Authentizität: „Man muss den Film im Original sehen: sonst versteht man zwar alles, aber das meiste falsch“, hat Andreas Kilb über David Lynchs „Wild at Heart“ geschrieben. Manchmal jedoch versteht man nicht mal alles — weil das meiste fehlt. Das berühmteste Beispiel ist im vergangenen Jahr mit der Wiederaufführung von „Casablanca“ in Erinnerung gerufen worden: Die Synchronfassung von 1951 hatte alle Hinweise auf die Nazis getilgt und war deshalb 20 Minuten kürzer. Hinweise auf die deutsche Geschichte werden bisweilen immer noch entfernt. In Lukas Moodyssons „Zusammen“ etwa will ein schwedischer Kommunist zur RAF gehen, ohne dass die deutschen Zuschauer jemals davon erführen. Um Filme für ein bestimmtes Alter zugänglich zu machen, werden oft gewaltverherrlichende Texte oder die Vulgärsprache gemildert. In „Pulp Fiction“ wird deshalb aus bad mutherfucker „böser schwarzer Mann“. Ein weiteres Problem sind kulturspezifische Anspielungen. In Nanni Morettis Film „Aprile“ gibt es einen Verweis auf den „Mediterraneo“-Regisseur Gabriele Salvatores. Weil die Synchronregisseurin diesen scheinbar nicht kannte, wird in der deutschen Fassung daraus ein x-beliebiger „Salvatore“.

Die Atmosphäre: Natürlich gehen auch bei Untertitelungen Informationen verloren: Die Zahl der Anschläge pro Zeile ist begrenzt, und bei schnellen Dialogen wird der Film mehr gelesen als gesehen. Doch der Film lebt nicht vom Dialog allein. Oft sagen Töne mehr als tausend Worte. Wenn Musik und Hintergrundgeräusche aber nicht auf einer eigenen Tonspur festgehalten, sondern mit dem Dialog zusammen aufgenommen sind, können sie bei einer Synchronisation nicht mehr gerettet werden. Das passiert bei Experimentalfilmen oder billigen Produktionen, aber auch bei Regisseuren wie Nanni Moretti, die bewusst auf Direktton setzen. Bei den Filmen der dänischen Dogma-Leute, die sich den Direktton sogar in ihre Zehn-Gebote-Tafeln gemeißelt hatten, mussten deshalb nicht nur die Dialoge ersetzt, sondern alle Geräusche im Studio nachgeraschelt und -geklappert werden. Die Folge: „Idioten“ klang idiotisch, und „Das Fest“ war nicht mehr feierlich.

Das Angebot: Wäre das deutsche Publikum besser an Untertitelung gewöhnt, gäbe es höchstwahrscheinlich ein größeres Angebot an Filmen. Warum? Eine Synchronisation kostet zwischen 25.000 und 150.000 €. Bei einer Untertitelung kommt der Verleih dagegen mit 3.000 bis 5.000 € aus. Kleine Filme werden deshalb oft nur untertitelt in die Kinos gebracht. Wären weniger Zuschauer synchronisationshörig, gäbe es ein größeres Publikum für untertitelte Filme. Und die Verleiher könnten mit geringerem Risiko mehr Filme ins Kino bringen.

PISA: Kritiker behaupten gerne, Filme seien eine Schule fürs Leben. Was in untertitelten Filmen auch stimmt. Durch das Weglassen der Synchronisation wären Kinder nämlich früh gezwungen, lesen zu lernen, wenn sie „Herr der Ringe“ oder „Das Dschungelbuch II“ verstehen wollten. Deshalb ist der Ruf nach mehr Untertitelung kein elitäres Blabla, sondern eine pädagogische Maßnahme. Außerdem werden Hörverständnis, Vokabular, Sprachmelodie und Aussprache anderer Sprachen trainiert. Dass die Schüler der Synchronisationsländer Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland oft schlechter Englisch sprechen als ihre Mitschüler aus kleineren Ländern wie Norwegen, Schweden und Holland, die viele Filme mit Untertitelung zeigen, hat auch damit zu tun.

Die Verleihtitel: Ohne Synchronisation ließen sich auch die oft scheußlichen Verleihtitel-Auswüchse entfernen. Klassiker sind der Beatles-Film „Help“, der einst unter dem Titel „Hi-hi-Hilfe“ in die Kinos kam, und „Singin’ in the Rain“ als „Du sollst mein Glücksstern sein“. Phillip Noyces vorletzter Film mit dem englischen Titel „Rabbit-Proof Fence“ bekam den, tja, englischen Titel „Long Walk Home“. Höhepunkt der Filmgeschichte ist aber vermutlich Peter MacDonalds „Mo’ Money“, der mit „Meh’ Geld“ übersetzt wurde. Hi-hi-Hilfe!